Sonntag, 7. Januar 2024

Femme dans le Miroir - oder: Über Reflexionen und Neuanfänge

 

Femme dans le miroir

Etwas war anders
Als du sie sahst
Zuletzt
Hinter dem Glas,
Das euch,
Eure Welten, alle Zeit
Trennte von Anbeginn.

Sie, die dich stets
Ansah auf ihre Art:
Neugierig,
Forschend,
Verschmitzt.
Dir manches Mal
Eine Grimasse schnitt,
Leisen Spott im Blick.

Ihr wähntet euch vertraut,
Denn sie war da
Von Anbeginn,
Wuchs heran mit dir -
Und nicht nur sie; es waren
Einst ihrer drei
Im grünschattigen Schlafzimmer
Der Großmutter - und
Noch mehr, sobald du
Die knarrenden Flügel
Bewegtest.

Und sie alle
Sahen dir gleich,
Taten dir gleich -
Und doch wieder nicht:
Hobst du
Die linke Hand,
So sie die rechte.
Zogst du
Die rechte Augenbraue hoch,
So sie die linke.
In ihren Zimmern  
Die deinem glichen,
Befand sich alles
Auf der verkehrten Seite.
Und du fragtest dich,
Welches Leben sie
Wohl heimlich führen mochten,
Sobald du ihnen
Den Rücken kehrtest?

Verließen sie den Raum
Wie du? - Wohin?
Machten sie auch dort
Alles verkehrt herum?

Verlief ihre Zeit
Womöglich gar
In die andere Richtung?
Zurück?

Oder begannen sie,
Sobald niemand hinsah,
Ein ganz eigenes Leben?
Kein braves, angepasstes
Wie du, sondern
Womöglich gar:
Ein wildes?
Ein freches?
Ein freies?
Irgendwo dort ganz hinten
In den unendlichen
Räumen und Fluchten,
In die du sie
Gern vervielfältigtest?
Wo sie immer kleiner wurden,
Blasser auch - und doch
Erschien stets
Hinter der vermeintlich letzten
Von ihnen je noch eine weitere
Und noch eine - und noch eine...

Du wolltest ihr nachgehen,
Ihr und ihren ungezählten
Schwestern, wolltest
Eindringen in ihr Schloss,
Ihr weites, traumverlorenes.
Dieses Leben suchen, das du
Ihnen zutrautest.

Doch hieß es sodann:
"Mittagessen, Spiegeläffchen!
Und bring mir ja
Die Kommode in Ordnung!"
Und schon musstest du
Sie lassen - und erfuhrst es nie:
Ihr streng gehütetes Geheimnis.

Später trafst du sie
Nur noch allein an.
Hattest dich an sie gewöhnt,
Sahst sie irgendwann
Mit Silber im Haar,
Wie dich selbst, woran
Du erkanntest, dass
Zumindest ihre Zeit
Doch nicht
Verkehrt herum verlief.
Nur Grimassen schnitt sie
Dir noch immer,
Gelegentlich,
Leisen Spott im Blick.

Diesmal jedoch, da
Wirkte sie verändert,
Abwesend. Ihre Augen
Nicht in dieser Welt.
Ihr Blick hielt deinem
Nicht stand, streifte
Dich nur flüchtig,
Du glaubtest,
Sogar den Anflug
Eines Lächelns darin
Zu erkennen, welches
Gleichermaßen Traurigkeit
Und Heiterkeit
Zu enthalten schien, etwas
Von allem, wie so oft.

Dies fast wie immer - und doch
Wusstest du es plötzlich:
Sie wird nicht bleiben.
Befindet sich im Aufbruch.
Macht sich reisefertig.
Eine Frage von Tagen,
Wochen?
Oder doch noch Jahren?
Vielleicht.
Fest steht:
Sie wird gehen -
Und sie wird
Dich nicht mitnehmen.

Und nun hast du
Jedesmal
Leise Furcht
Ins Glas zu sehen.
Denn du weißt sehr gut,
Was es bedeutet,
Wenn einst
Sich eure Blicke
Nicht mehr
Darin begegnen.

 

Güglingen, im Oktober 2024

Bettina Johl

 


Lauffen am Neckar

Gedichte für sich sprechen lassen in Zeiten von Krisen und Umbrüchen, wo sonst immer öfter die Worte fehlen.

Sich neu sortieren, auch persönlich, um allmählich wieder neu Haltung einzunehmen und Stellung beziehen zu können.

Manchmal führt Zerrissenheit zu langem Schweigen, während das Leben dennoch weiterläuft, sich mitunter Bedeutendes ereignet.



Mein Roman "Holunderblüten - Zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins" ist seit dem 27.07.2022 als gedrucktes Buch erhältlich:

Bettina Johl:
Holunderblüten
Zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins. Roman
Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2022
230 Seiten
ISBN 978-3-936134-89-6

Preis:
Buch: 17,80 €
eBook: 10,00 € 


Link zum Buch


Güglingen: Deutscher Hof


Mauritiuskirche Güglingen
Im letzten Jahr bin ich sozusagen zurückgekehrt - nicht ganz an den Neckar, der mir Lebensader ist, aber zumindest an die Zaber, an deren letzten Metern zum Neckar hin ich geboren bin, wie auch mein Dichter, der mich niemals loslässt.

Die Kleinstadt, die ich immer mochte, ist für mich der Ort, der mir hinreichend Luft zum Atmen lässt und mir dennoch alle Anbindung gewährt; Ort zum Leben und - wie ich hoffe - auch zum Schreiben. So sehe ich dem neuen Jahr und neuen Projekten mit Spannung entgegen.

 

 

 

 

 

Notre Dame Cathedral Basilica Ottawa/Canada
Was hielt mich zurück, von Ereignissen zu berichten, die für mich allergrößte Bedeutung hatten, wie meine Reise in den Osten Kanadas, nach Ottawa, Montreal und Québec-Ville im Sommer 2022? 

Vermutlich, weil ich zu schwer am Abschied trug, bedeutete dieser doch die räumliche Trennung von neu liebgewonnenen Menschen auf ungewisse Zeit. 

Die Hoffnung auf ein Wiedersehen ist nun da und ich plane, den nächsten Beitrag ganz den Eindrücken dieser Reise zu widmen.

 


 

 

Die Zeit des Rückzugs war insgesamt keineswegs eine verlorene, auch sie brachte mir letztlich viele ermutigende Erfahrungen ein: 

Dass berufliche und private Herausforderungen bewältigt werden können. 

Dass eine Partnerschaftsbeziehung zu Ende gehen und als Freundschaft dennoch fortbestehen kann. 

Dass es wichtig ist, dem eigenen Herzen zu folgen.

Und auch, dass es sich lohnt, solidarisch - gewerkschaftlich und politisch - für bessere Rahmenbedingungen in Sachen guter Bildung zu einzutreten und zu streiten, welches letztlich für unser aller Zukunft entscheidend sein wird, auch im Hinblick auf den Fortbestand unserer Demokratie. Für die es keine Alternative gibt, keine, die wir wollen können. 

Einfache Lösungen für komplexe Probleme haben nämlich einen gravierenden Schönheitsfehler: Es gibt sie nicht! Und wir tun gut daran, uns zu fragen, welche tatsächlichen Interessen diejenigen verfolgen, die uns solche versprechen wollen! 

In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Mut, Ausdauer und auch das zugehörige Glück fürs Neue Jahr! 

💜 💙 💚 💛 🧡 ❤️

Bleiben wir solidarisch bunt, immer grünend - und hören wir nie auf, auch im tiefsten Winter nach der Blauen Blume zu suchen!

Lernen wir einander besser kennen und geben wir Hetze, Ausgrenzung und Menschenverachtung keine Chance, nirgendwo!





Einstweilen seid herzlich gegrüßt und
"Gehabt euch wohl!"

Bis in Kürze...

 

Eure Betty

(Hier mit Sohn Raphi am 2. Weihnachtstag auf dem Michaelsberg bei Cleebronn im Naturpark Stromberg-Heuchelberg)



 


PS:

Hier geht es zu meinem Vorleseprojekt zu

Bettine von Arnim:
Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (Playlist)

Es entstand während des Lockdowns der Pandemiezeit und steht mittlerweile nahe vor seinem Abschluss. 

Weitere Lesungen finden sich auf meinem YouTubeKanal. Abonniert ihn gerne, um keine neuen Folgen und Projekte zu verpassen!

Donnerstag, 31. März 2022

Im Hölderlinhaus - oder: "Wozu Dichter in dürftiger Zeit?"

 

 

 

Im Hölderlinhaus

Dir nachgehen, Sänger,
Über ächzende Dielen,
Seufzende Stiegen, wo du,
Ein Kind noch, vorsichtig
Schritte, die allerersten, wagtest.

Laute, die dich umgaben, erste,
Die du vernahmst, fortlebend
In dir: Das stetige Murmeln
Der Zaber, sich verlierend
In Rauschen, wo im weiteren
Verlauf den Neckar sie trifft, jenen
Unbezähmbar gebliebenen,
Dessen Stromschnellen
Lange zuvor, raunend
An beiden Ufern Wohnenden
Den Namen des Ortes nannten:
Hlauppa.

Auch: Der sehnsuchtsvolle
Ruf der Glocken vom
Turme der Heiligen, deren
Legendenumwobenem
Lächeln auf Rosenwangen
Die tosenden Fluten des Stromes
Nichts anzuhaben vermochten.

Lerntest du es von ihr: Dich
Ihm anzuvertrauen, Dich
Von ihm tragen zu lassen, weiter
Dem Meere entgegen, von dem
Dir erzählten die Rufe der unruhigen
Möwen? Ihre durchdringenden
Stimmen der Freiheit, weckten sie
Dein empfängliches Herz?

So wie das Licht, welches du
Das gütige nanntest, im
Augenblick, da es dir
Zuallererst begegnete, gespiegelt
Im funkelnden Wasser, beschattet
Vom belaubten Kronendach
Hoher Bäume, unter welchen
Noch frühzeitiger im Jahr
Blaue Sterne, vereinzelt
Ins zartgrüne Gras gestreut, deiner
Ankunft zuerst sich erfreuten.

Weckten sie in dir,
Dem zwischen Klostermauern
Traumverloren Wandelnden,
Jene dich stets begleitende
Liebe zu Pflanzen, zu Blumen?
Zu den Sternen des unendlichen,
Sich weithin verlierenden Alls?

Wandeln wie du
In jungen Jahren, traumverloren.
Nichts haltend, immer nur
Gleichen Mutes alles lassend,
Still empfangend, einzig
Dem Werden sich ver-schreibend.

 

Lauffen am Neckar, den 20.03.2022

Bettina Johl 

 

 



 

"Dürftige Zeiten" - auch wir können ein eigenes Lied davon singen, da wir uns in solchen wiederfinden, reichlich zerzaust von einer Pandemie, die uns noch immer in Atem hält, und zutiefst erschrocken über den Zivilisationsbruch eines brutalen Angriffskrieges in Europa, der uns einmal mehr daran erinnert, dass diese Welt nie ein friedlicher Ort war und dass noch sehr viel zu tun sein wird, sie annähernd auf den Weg dahin zu bringen.

Ich will mir und uns hier nicht die Frage stellen oder gar erörtern, ob in diesen zerbrechlichen Zeiten noch Raum für Dichtung in dieser Welt ist. Ich muss es voraussetzen! Denn wenn diese Welt bewohnbar bleiben soll, muss Raum dafür in ihr sein! Und deshalb geht es - nach einer längeren Pause - auch hier weiter.


 

 



 


Im Januar ließ sich zu meiner großen Freude gemeinsam mit dem Campus Radio CKCU FM 93.1 der Carleton University in Ottawa/Canada ein Herzensprojekt verwirklichen:

Im Rahmen der wöchentlichen viersprachigen Sendung CKCU Literary News unter der Leitung von Hans G. Ruprecht konnte ein zweiteiliges Interview mit Frau Eva Ehrenfeld, Leiterin des Museums Hölderlinhaus in Lauffen am Neckar, Kuratorin der Ausstellung und Geschäftsführerin der Hölderlin-Gesellschaft, ausgestrahlt werden. 

Beide Folgen sind OnDemand verfügbar und können unter den folgenden Links jeweils unter dem Menüpunkt "Listen now" (zu finden auf der linken Seite) abgerufen werden:

Besuch im Museum HÖLDERLINHAUS Teil 1

Besuch im Museum HÖLDERLINHAUS Teil 2

Ebenfalls können diese direkt über SOUNDCLOUD angehört werden unter:

https://soundcloud.com/radiockcu-fm-literary-news/besuch-im-museum-holderlinhaus-in-lauffen-teil-1-bettina-johl-und-eva-ehrenfeld-im-gesprach

und

https://soundcloud.com/radiockcu-fm-literary-news/besuch-im-holderlinhaus-teil-2 

Die Arbeit an diesem Projekt hat mir, die ich in Sachen Radio freilich Amateurin bin, großen Spaß gemacht, sodass ich mir wünsche, es möge nicht das letzte dieser Art gewesen sein. 

Allen weiter oben Genannten, die es ermöglicht haben, gilt mein herzlicher Dank! 

Möge es ein wenig dazu beitragen, dass Menschen auch und gerade heute noch Zugang zu Hölderlin und seinem Werk finden!

Unterdessen eilt das Flüsschen Zaber, an dem alles seinen Anfang nahm, weiter munter dem Neckar zu.




 

An dieser Stelle möchte ich noch auf eine frühere Sendung hinweisen, die ebenfalls auf CKCU LitNews im September 2021 zu Hermann Hesses Briefen 1940 - 1946 ausgestrahlt wurde:

Bettina Johl im Gespräch über HERMANN HESSE

Diesem Gespräch zugrunde liegt mein
Beitrag
Anschreiben gegen die Weltkrankheit des Größenwahns
im Online-Portal Literaturkritik.de,
erschienen in der Ausgabe 08-2021.

 

 

Ungekürzt nachzuhören ist die Sendung unter "Listen now" auf der Website oder unter SOUNDCLOUD:

https://soundcloud.com/radiockcu-fm-literary-news/hesse-werk-und-briefe-1940-1946


Desweiteren freue ich mich, ankündigen zu können, dass mein Roman "Holunderblüten", der seit 2020 als eBook verfügbar ist, noch in diesem Jahr in Druck gehen wird.


 

"Schreib weiter - und schreib Gedichte!", sagt ein lieber Freund und Mentor, dessen Bestärkung und Ermutigung mir in diesen Tagen mehr bedeutet, als ich es hier in Worte fassen kann. Und ich zögere immer wieder, bezeichnete ich doch meine Gedichte immer mehr als Spiel, behauptete, mich nicht darauf zu verstehen. Aber vielleicht ist das ja gar nicht notwendig. Wenn sie denn da sind, so suchen sie sich ihren Weg. So denn...

 

Verlorene Spur

Die Spur: Ihr folgen -
Damals,
Als die Schienen noch
Glanz trugen,
Wäre es wohl

Zu denken
Gewesen.

Aber es war
Frühling.

Ich verlor mich
Im duftenden Weiß

Der Schlehdornhecken

Hummelumflogen

An ihrem Saum.

Ich blieb
Auf der Strecke,

Sozusagen.
Verträumte

Die junge Zeit

Im unwirklichen

Blau.

Es kam
Der Sommer.

Verwachsen
Die Schienen.

Verflogen

Die Blüten.

Und Hummeln -

Sie auch.

Dornen zeichneten
Spuren - andere

Auf der Haut und
Im Herzen -

Da auch.

Ich blieb.
Achtete

Ihrer nicht.
Träumte weiter

Den Traum

Vom unwirklichen

Blau.

Im Herbst
Wird die Spur

Nirgendwohin

Mehr führen,

Werden die Schienen

Verrostet liegen.

Ich werde
Noch da sein

In den Hecken,
Leicht angekratzt,

Die herben

Früchte ernten,

Leicht bitter -

Und doch

Unwiderstehlich

Im unwirklichen

Blau.

 

Bettina Johl

im März 2022




Und da die Blumen noch dieselben sind und sich nicht um Zeitläufte scheren, wie schon Hermann Hesse feststellte, bleibt mir, uns einmal mehr einen hoffnungsvollen Frühling zu wünschen!

In diesem Sinne

Betty 


Anemone nemorosa

Dein Kopfnicken
Im Wind,
Zauberschöne:
Uneingeschränktes
Ja zum Frühling,
In zerbrechlicher Zeit.

Bettina Johl

März 2022