Sonntag, 23. November 2014

Reise-Herbst mit Stadtmusikanten, Dichtern und Kranichen - oder: Unterwegs zuhause


Blätter wehen vom Baume,
Lieder vom Lebenstraume
Wehen spielend dahin;
Vieles ist untergegangen,
Seit wir zuerst sie sangen,
Zärtliche Melodien.
Sterblich sind auch die Lieder,
Keines tönt ewig wieder,
Alle verweht der Wind:
Blumen und Schmetterlinge,
Die unvergänglicher Dinge
Flüchtiges Gleichnis sind.

Hermann Hesse



Der Herbst als Gleichnis für das Flüchtige in allem. Uns allzu vertraut, die wir mittels des Schreibens und der Fotografie einmal mehr bemüht sind, der Flüchtigkeit ein Schnippchen zu schlagen und sie für alle Zeiten zu bannen. Stückwerk wird es bleiben - wir ahnen es! Immer gelingt nur eine kurze Momentaufnahme aus einem bestimmten Winkel, die niemals alle Sinneseindrücke zugleich wiederzugeben vermag. Wir bleiben auf unser ewig unzulängliches Gedächtnis angewiesen und stellen immer wieder fest, dass auch unsere dort gespeicherten Erinnerungen unvollständig, unzuverlässig und flüchtig sind. Vielleicht muss dies so sein.

Der vergangene Oktober wurde zum Reisemonat mit vielen neuen Eindrücken, deren Sichtung mich noch eine Weile beschäftigt halten wird. Eine Fahrt nach Bremen diente vornehmlich pädagogischen Studienzwecken, die leider zu wenig Zeit für die Kunst übrig ließen, trotz eines "gestohlenen" Nachmittags bei Paula Modersohn-Becker in der Böttcherstraße und einiger verregneter Stunden in Worpswede.




Weniger rar machten sich hingegen jene vier Gesellen, allesamt ausgedient und auf der Suche nach neuen Perspektiven, welche die Stadt selbst wohl nie erreichten, da sie sich inzwischen als Hausbesetzer eine hinreichende Unterkunft im Grünen verschafft hatten.



Etwas an jenen Märchengestalten fasziniert mich seit Kindheitstagen; vielleicht ist es ihre Entschlossenheit zum Aufbruch und ihr Wille zum Zusammenhalt über alle Unterschiedlichkeit hinweg, - wenn man so will, eine Geschichte von zeitloser Aktualität.

Allerorten begegnet man ihnen unverhofft, so auch in der Böttcherstraße mit all ihren Merkwürdigkeiten, hier als winzig kleine Bronzefiguren auf dem "Brunnen der sieben Faulen", hinter dem sich passenderweise die Bonbonmanufaktur befindet, an der nur schwer Vorbeikommen ist.







 
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Bedeutend weniger Gedränge fand ich im Museum der Malerin Paula Modersohn-Becker vor, was ein längeres, ungestörtes Betrachten ihrer eindrucksvollen Portraits von Frauen und Kindern in der Worpsweder Landschaft ermöglichte.













Weitere Kunst-Exkursionen musste ich schließlich schweren Herzens auf einen späteren Besuch vertagen. Unvergessen bleiben Abende an der Schlachte, wo es durch sommerliche Temperaturen noch möglich war, gemütlich im Außenbereich der Lokale zu sitzen und auf die Weser zu schauen, ebenso das Durchstöbern der kleinen Läden und Cafés im Schnoor-Viertel, wo ich es mehrfach genoss, Tee auf ostfriesische Art serviert zu bekommen. Allein solches lässt mir den Norden ein um das andere Mal zum Gelobten Land werden.







In diesem besonderen Winkel Bremens kommt es durchaus vor, dass man viel Zeit in dem einen oder anderen der liebenswerten kleinen Läden verbringt und mit den Besitzern ins Gespräch kommt, die gern mit ihrer Kundschaft einen "Schnack" halten, um einem am Ende die nächste Teestube zu empfehlen, in der zu landen man letztlich doch wieder nicht widerstehen kann.

















Doch handelte es sich hier, wie erwähnt, um eine Studienreise, und als einer solchen ließ sich vieles aus ihr mitnehmen. Hospitationen in verschiedenen Einrichtungen, wie der Freinet-Kindertagesstätte Prinzhöfte, der Stadtteilfarm Huchting sowie einigen Kinderhäusern und Familienzentren, gewährten Einblick in eine sehr engagierte pädagogische Arbeit in Bremen und Umgebung. Etwas ausführlicher habe ich darüber in Betty's Kids' Corner berichtet. Alles in allem waren es sehr spannende, anregende Tage.






Wieder zuhause, konnten die Koffer gepackt bleiben zum bald darauf folgenden Aufbruch in die ersehnten Herbstferien nach Rügen.

Wie auch schon zwei Jahre zuvor hatten wir unser Domizil auf Jasmund an der Kreideküste in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nationalpark. Der heute eher verträumt wirkende Ort Lohme war einst das erste Seebad auf Rügen, das seiner besonderen Lage wegen viele Künstler und Literaten anzog.









"Es ist nicht möglich, einen einfacheren und erhabenen Anblick zu finden, eine bloße Öffnung ins Meer, aber die unendliche Ebene so frei und groß daliegend,und der Schauplatz, von dem man sie sieht so kühn und fest gegründet, so wunderbar gestaltet durch die Ecken und Winkel der Felsen, so abstechend von Farben mit den weißen Kreidewänden gegen das blaue Meer..."

Wilhelm von Humboldt
(Tagebucheintrag vom 12. August 1796)









Um die Worte von Humboldts in ihrer Bedeutung zu erfassen, kann es notwendig werden, die meist besuchten Punkte zu verlassen und abseits der Touristenströme auf dem Hochuferweg zu wandern, der eine Fülle weiterer, weniger bekannter Ausblicke bereit hält. Den größten Reiz üben letztlich immer wieder unzugängliche Orte aus, wie der verborgen gelegene kleine Leuchtturm Kollicker Ort, an dem ich während vieler Jahre noch immer ahnungslos vorübergegangen war, ohne ihn je zu finden, und zu dem mir auch diesmal der Zugang versperrt und auf den mir nur ein Spähblick durch die Bäume vergönnt blieb. Er bleibt somit ein Sehnsuchtsort.



Auf den Wanderer warten faszinierende Gegensätze auf sehr kleinem Raum: auf der einen, der See zugewandten Seite die steilen, von Meer, Wind und Wetter geformten Kreideklippen, auf der abgewandten Seite  Buchenwälder und verträumt liegende Süßwasserseen, wie der sagenumwobene Herthasee.







Anders als zwei Jahre zuvor war meine Hoffnung, noch Kraniche beobachten zu können, des verlängerten Sommers wegen etwas größer, und tatsächlich konnte ich, wenn ich morgens mit der ersten Tasse Kaffee auf den großen Balkon - mit Seeblick durch die Bäume - hinaus trat, oft ihre Rufe hören. Ich vermutete, dass sie sich in der Nähe des Boddengewässers aufhielten. Die Kranichfahrten, die sonst per Ausflugsschiff möglich sind, waren jedoch schon in der Woche zuvor eingestellt worden. Mehrmals versuchte ich, an unterschiedlichen Stellen ans Boddenufer zu gelangen, aber sehr oft versperrte mir ein dichter Schilfgürtel die Sicht.


Bei einem dieser Versuche fanden wir uns eines Abends, als uns beim Überqueren eines Hügels das letzte golden gleißende Sonnenlicht auf dem Wasserspiegel magisch angezogen hatte, in einer von alten Kopfweiden gesäumten Allee in unmittelbarer Nähe des Schlosses Spyker wieder.



Mit einem Mal war in der Luft ein Brausen zu vernehmen, begleitet von hohen, schrillen Rufen, und ich sah sie in großer Zahl in ihren typischen keilförmigen Flugformationen in niedriger Höhe über den Himmel ziehen, um in nächster Nähe zu landen. Ebenso entdeckten wir immer wieder kleinere Gruppen von Graugänsen, welche dieselbe Richtung zu nehmen schienen. Erstmals sah ich beide Arten zugleich und konnte nun endlich ihr jeweiliges Flugbild vergleichen. Hier wurde der optische Unterschied deutlich durch die langen Beine der Kraniche, während sich deren hohe Stimmen akustisch deutlich vom tiefer gestimmten Schnattern der Gänse abhoben. Für diesmal ließ sich ihr genauer Landeplatz nicht ausmachen, doch während der folgenden Nächte waren sie sehr oft in der Dunkelheit zu hören.







Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit Ausflügen zum Kap Arkona, dessen Leuchtfeuer uns stets von Wittow herüber grüßte, und auf der Insel Hiddensee, die uns zeigte, dass es durchaus reizvoll sein kann, sie bei herbstlichem Nebel aufzusuchen, wenn sich die meisten Besucher in die warmen Kaffeestuben verzogen haben.






























Auch diese Insel: Rückzugsort für viele Künstler, bis sie manch einem zuweilen zu voll wurde. Hauptanlass für unsere Überfahrt war ein Besuch bei Gerhart Hauptmann, dessen schön erhaltenes Haus manchen Einblick in ein recht kauziges, mit vielerlei markanten Schrullen ausstaffiertes Schriftstellerleben bietet.










Am letzten Tag machte ich mich nochmals auf, um nach "meinen" Kranichen Ausschau zu halten. Es war ein trüber, verregneter Morgen. Mehrmals befuhr ich entlegene, holprige Kopfsteinpflaster- oder Sandwege, die in kleinen, um diese Jahreszeit verlassen anmutenden Fischerdörfern am Großen Jasmunder Bodden endeten, mehrmals musste ich unverrichteter Dinge wenden und zur Hauptstraße zurückfahren. Ich näherte mich bereits der Stadt Sagard und unternahm einen letzten Versuch, indem ich kurz vor dem Ortsschild abermals in einen Seitenweg einbog. Von diesem zweigte ein weiterer Weg ab, der über eine Anhöhe führte. Als ich diese erreicht hatte, sah ich sie. Sie lagerten etwas entfernt auf einem brachliegenden Feld. Es waren Hunderte! Ich hatte das Fernglas bei mir, so dass es mir möglich war, sie genauer zu beobachten. Die Kraniche hoben sich mit ihrem schwarz-hellgrauen Gefieder sehr deutlich vom braunen Ackerboden ab. Manche schienen stehend zu schlafen, andere suchten in Bodennähe nach Nahrung. Ab und zu erhob sich eine kleine Formation in die Lüfte und flog in Richtung der nächsten Wasserstellen. Dann gewahrte ich beim näheren Hinsehen in jenem Braun, das ich zunächst für Ackerboden gehalten hatte, mehrere Köpfe und Hälse von liegenden Graugänsen. Und gleich einem Suchbild wurden es mehr, je länger ich hinschaute. Auf dem Feld lagerten riesige Scharen von Graugänsen! Die Kraniche mochten Hunderte sein, die Gänse lagerten zu Tausenden! Nicht einmal während eines am Niederrhein verbrachten Frühlings hatte ich so viele von ihnen auf einem Fleck gesehen. Ebenso war mir nicht bewusst, wie eng sie mit den Kranichen vergesellschaftet sind und ohne viel Aufhebens die Rastplätze mit ihnen teilen. Meine morgendliche Exkursion hatte sich auf alle Fälle gelohnt!




Wie immer waren die Tage zu schnell vergangen; kaum dass wir begonnen hatten, in einem anderen Rhythmus zu atmen, mussten wir wieder an den Aufbruch denken. Wir nahmen Abschied von der See und verbrachten auf der Heimreise ein letztes Wochenende bei den Dichtern in Weimar, wo uns zu Novemberbeginn nochmals außergewöhnlich warme  Sonnenstunden vergönnt waren.








"Weimar war gerade nur dadurch interessant, daß nirgends ein Zentrum war. Es lebten bedeutende Menschen hier, die sich nicht miteinander vertrugen, das war das Belebendste aller Verhältnisse, regte an und erhielt jedem seine Freiheit."

Johann Wolfgang von Goethe













In besonderer herbstlicher Pracht zeigte sich der Park an der Ilm mit Goethes Gartenhaus; gerade so viel, um in uns die liebgewordenen Vorstellungen von einstigen poetischen Zeiten hervorzurufen, die es - wir ahnen es - so wohl nie gegeben hat.









































Mögen wir uns dennoch unsere Vorstellungen von Poesie in unserem Inneren bewahren; sie sind es, die uns über den Alltag helfen!

In diesem Sinne


Herzliche Grüße

Bettine


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