Sonntag, 24. November 2013

November-Elegie



Auch im Herbst
singen die Vögel
dies auserwählte Volk
Wir Maskenträger
haben verlernt
zu lauschen
dem Amselgespräch
und der innern Musik
Herbst
der freundliche Feind
Leg deinen Raum
in den Rahmen
der Zeit

Rose Ausländer (Herbst)


Schon lange wollte ich gern etwas mit dem Titel "November-Elegie" schreiben - nenne es eine Marotte - und natürlich traue ich mich dies offiziell nicht, da es - wie ich mutmaße - längst zu vieles gibt, das diesen Namen trägt. Aber hier in meinem - beinahe - privaten Blog darf ich solches wagen. Liest ja niemand...

An das Gedicht Rose Ausländers fand ich mich erinnert, als ich nach dem Abzug der Stare, deren unbekümmertes Schwatzen ich schmerzlich vermisse, morgens erstmals den melodischen, perlenden Gesang des Rotkehlchens hörte, welches sich unbeeindruckt von der Novemberwitterung auf einem der gegenüberliegenden Dächer niedergelassen hatte. Das Rotkehlchen, ein unverdrossener Wintersänger, der mir die lichtarmen Tage erträglich machen wird. Auch das leise, wie entfernt klingende Amselgezwitscher, zweckfrei vorgetragen, geschlossenen Schnabels mit unbeteiligter Miene: Ein Geheimnis des Herbstes, der weiter fortschreitet, um unmerklich dem Winter Platz zu machen. Freundlicher Feind? Er ist zu schnell vergangen, dieser Herbst, hatte zu wenig Raum im Rahmen der Zeit. Und mir liegt der Gedanke nahe: Möge der Winter es ihm gleich tun! Aber sogleich erinnere ich mich an versöhnlichere Töne, die ich diesem gegenüber einst anschlug, als ich schrieb: Er bringt uns die Ruhe zurück. Uns, die wir verlernt haben zu lauschen. Maskenträger, wir. Die wir zugeschüttet sind mit Lärm, gelernt haben, diesen an uns abgleiten zu lassen, - auf Kosten unserer Sensibilität für die leisen Töne.

Aufschlussreiche Beobachtung während einer mit Kindern im Vorschulalter erprobten Klangwerkstatt. Anfangs faszinieren besonders die lauten Instrumente. Selbst nach Herzenslust laute Töne erzeugen dürfen baut Spannungen ab, nimmt etwas von dem Druck, welcher durch den Lärm entsteht, der normalerweise von außen auf die Kleinen eindringt, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, sich dagegen zu wehren. Nach einer gewissen Zeit beginnen auch die leiseren Klänge wieder ihr Interesse zu wecken, sie üben sich neu im Hinhören und Lauschen. Und mir drängt sich der Gedanke auf: Wie können sie sich schützen vor dem Lärm, den die Großen ihnen unausgesetzt zumuten? Jene Großen, die von den Kleinen so oft fordern, still zu sein, sich ruhig zu verhalten?

Das Elegische will allein Klage nicht sein, abgesehen von jener um zerrinnende, unwiederbringlich verloren gehende Zeit. Ich verbringe die Tage in Gesellschaft einer hochbetagten Katze; ihr Schnurren begleitet mein Schreiben; ich versehe sie mit neuen Namen, nenne sie "Spinnrädchen", "Nähmaschine" und "Samt-Tiger". Die Katze ist "nur geliehen", was nichts zur Sache tut, denn was ist nicht alles Leihgabe von dem, was wir gern unser eigen nennen? Auf ihre Ohren ist Verlass. Sie liebt Musik von Vivaldi und Mozart. Und sie kann das Motorengeräusch meines alten Diesels unfehlbar identifizieren, kommt mir zur Begrüßung entgegen, sobald ich vorgefahren bin. Aber auch sie hat elegische Anwandlungen, Stunden, während derer sie, von sichtbarer Unruhe getrieben, auf geheimnisvolle Weise in der Nacht verschwindet oder sich am helllichten Tage in einem finsteren Winkel des Heizungskellers verschanzt, nicht ansprechbar ist, mir entgegen schaut wie eine Fremde und mich nicht an sie heranlässt. Irgendwann findet sie sich wieder vor  meiner Tür ein, als sei nichts gewesen. "Auch in meinem Katzenleben hat es Dinge gegeben, die mir manche Tage zu schaffen machen, von denen Du als Nicht-Schnurrhaarträgerin nichts ahnen kannst", bilde ich mir ein, in ihrem Blick zu lesen. Womit sie wohl Recht haben mag. Und so lassen wir uns gegenseitig unsere Marotten und Befindlichkeiten, nach dem Motto: Leben und spinnen lassen.

Ansonsten in der Tat zu wenig Raum im Rahmen der Zeit, um den Herbst zu genießen. Vereinzelte "gestohlene Tage", wie eine Stippvisite ins Siebengebirge zu einer meiner Lieblingsruinen, der Löwenburg, die eine traumhafte Kulisse für einen kurz währenden herbstlich-goldenen Sonnenuntergang über dem Rheintal bot.










Einer der unzweifelhaften Vorzüge, die der November aufzuweisen hat, ist der, manche Orte, die sonst von Besucherströmen heimgesucht sind, nahezu für sich allein zu haben. Das spätherbstliche, still gewordene Maulbronn, sakraler und literarischer Ort, lässt besonders in dieser Jahreszeit eine Ahnung früherer Tage vor dem inneren Auge erstehen, im Schatten der dunklen Sandsteinmauern stehend, dem Flüstern lange verklungener Stimmen lauschend. Für einen Lidschlag scheint hin und wieder ein kurzer Blick durch den Vorhang der Zeiten möglich, bevor der Novembernebel alle Bilder und Trugbilder wiederum verhüllt und es uns rückblickend schwer macht, sie voneinander zu unterscheiden.




Der Blick wird magisch angezogen von einem Transparent: "Adventskalender-Ausstellung". Die schwere Tür zu der mächtigen ehemaligen Zehntscheune öffnen, sich im Dunkeln wiederfinden, schon glauben, im falschen Raum zu sein, dann hinter einer weiteren Tür Licht, Eintauchen in eine über hundertjährige Welt des Vorweihnachtszaubers, enges Beisammensein von Kitsch und Kunst, Faszination - aber auch Gruseln über Dokumente ideologischer Vereinnahmung zu unseligen Zeiten im Lauf der Geschichte.

Adventskalender - Zeugnisse verlogener Sentimentalität, Heraufbeschwören einer Idylle, die es nie gegeben hat? Oder schlicht eine Hommage an die kindliche Freude am Geheimnis, - auch wenn es lediglich um bunte Bildchen hinter Papptürchen geht? Sinnbild für die tief verwurzelte Sehnsucht nach Fenstern und Türen, die sich zu gegebener Zeit öffnen lassen, um hinter die sichtbaren Dinge schauen zu können? Deutungsversuche, die möglicherweise scheitern, während ich bei Kaffee und Nusstorte in einem nahegelegenen Café meine neu erworbenen Schätze - wie so oft sind Museumsladen und Buchhandlung Nutznießer meiner Stöbereien - betrachte: Ein Reprint eines schlichten Adventkalenders von 1946 und ein nostalgisches Glasmurmelspiel in einem putzigen Schächtelchen.




Nicht zuletzt ist diese Jahreszeit Lesezeit, könnte es umso mehr sein, wenn weniger andere Dinge zu tun wären. Immerhin reichte es zu einer neuen Buchbesprechung zu Lukas Hartmanns "Abschied von Sansibar" - Diogenes Verlag, die bei Glanz & Elend erschien und auch in unserem Blog nachgelesen werden kann: Prinzessin ohne Land. Als nächstes plane ich, mich der bei Fischer neu erschienenen Anne-Frank-Gesamtausgabe etwas ausführlicher zu widmen.

Am 1. Dezember jährt sich der Todestag Christa Wolfs zum zweiten Mal. Ich vermisse sie sehr, ebenso Sarah Kirsch, die im Mai dieses Jahres verstarb. Zwei große Schriftstellerinnen, ganz unterschiedlich in Wesensart und Stil, beide unersetzlich. Das Schmökern in Sarah Kirschs ganz besonderen Tagebuchnotizen - wie "Krähengeschwätz", "Regenkatze" und "Märzveilchen"- ist seit Wochen meine bevorzugte Abendbeschäftigung. Zu Christa und Gerhard Wolf erschienen beim Ullstein Verlag unter dem Titel "Sei dennoch unverzagt" aufgezeichnete Gespräche, geführt und herausgegeben von ihrer Enkelin, der Journalistin Jana Simon, - ein interessanter Austausch der Generationen. Für Winterlektüre ist also reich gesorgt. Mögen sich lediglich noch die dafür notwendigen Musestunden finden!

Und ungeachtet jährlich neu belebten inneren Grolls über Verlogenheit und Konsumwahnsinn der Weihnachtszeit freue ich mich darauf, mein im Frühjahr neu bezogenes Dachdomizil erstmals für den bevorstehenden Advent zu dekorieren...

In diesem Sinne wünsche ich uns allen Mut und Kreativität, unsere persönliche Adventszeit nach jeweils eigenen Bedürfnissen individuell zu gestalten - und die Rolle der Gehetzten und von falschen Erwartungen Getriebenen konsequent von uns zu weisen!

Herzliche Grüße

Bettine

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